„Unsere Rolle wird die des Assistenten sein“

Interview mit Elke Willi, Vorstandsvorsitzende Lebenshilfe Esslingen und Verena Könekamp, Aufsichtsratsvorsitzende Lebenshilfe Esslingen.

 

Interview

In diesem Jahr feiert die Lebenshilfe Esslingen 60 Jahre Bestehen. Seit den Gründungsjahren hat sich viel getan. Die Situation für Menschen mit Behinderungen hat sich deutlich verbessert, doch auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben behinderter Menschen sind noch viele Schritte zu gehen.

 

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Unterschiede zwischen den ersten Jahren des Vereins Lebenshilfe und der Gegenwart?

Elke Willi: Die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung steht deutlich mehr im Vordergrund als früher. Es gab diese Entwicklung von der Fürsorge und Verwahrung hin zur Selbstbestimmung. 

Verena Könekamp: Anfangs wurde für das Schulrecht und Sonderschulen gekämpft. Heute möchte man behinderte SchülerInnen in allgemeinen Schulen mit anderen SchülerInnen beschulen. Inklusive Schulklassen sind ein erster Schritt, der jedoch häufig durch den Mangel an Lehrkräften und Sozialpädagoginnen zu Lasten aller Kinder geht. Inklusion beginnt- aber endet nicht in der Schule. Wie gestalten wir Teilhabe am Arbeitsleben? Wie können Menschen mit Behinderung selbstbestimmt in unseren Gemeinden und Städten wohnen? Alles Fragen die politischer Entscheidung und auskömmlicher Finanzierung und keinesfalls nur Lippenbekenntnissen bedürfen.

 

Skizzieren Sie doch die Entwicklung des Vereins Lebenshilfe in den vergangenen 60 Jahren. Gab es eine Initialzündung?

Elke Willi: Es begann alles mit der Initiative vor allem von Karl Reiz, dem ehemaligen Rektor der so genannten Hilfsschule in Esslingen. Kinder mit Behinderung galten als nicht bildungsfähig. Sie wurden in keiner Schule aufgenommen, sie blieben zuhause oder waren in einer sog. Anstalt untergebracht, waren in der Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar, In Sirnau wurde eine Tagesstätte für Kinder gegründet. Das war im Prinzip der Grundstein für die heutige Rohräckerschule. In dieser Zeit entstanden auch die ersten beschützenden Werkstätten.

Verena Könekamp: Es gab dann Mitte der 70er-Jahre diese Aufbruchsstimmung, es wurden in ganz Deutschland Ortsvereine der Lebenshilfe gegründet. Unterstützt durch die Aktion Sorgenkind, heute Aktion Mensch, die von Tom Mutters dem Gründer der Lebenshilfe in Deutschland, ins Leben gerufen wurde.

 

Was waren für Sie die wichtigsten Schritte?

Elke Willi: Die stetige Weiterentwicklung der Wohnformen für Menschen mit Behinderung zeigen auch das Umdenken in der Gesellschaft und damit in der öffentlichen Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung . Betreute Wohngemeinschaften beispielsweise zeigen, wie Menschen mit Behinderung ihren Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben mit Assistenz verwirklichen können. Andere Wohnprojekte in Esslingen und Ostfildern bringen wiederum Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Oder wir haben Einrichtungen, in denen das Zusammenleben als Paar möglich ist. Weitere wichtige Angebote sind aufgrund des demografischen Wandels Unterstützungsangebote sowie Wohnangebote für Senior*innen. .

Verena Könekamp: Auch das Thema Inklusion ist in den Fokus gerückt, hier konnten erste wichtige Schritte in Sachen Schule, Arbeit und Wohnen unternommen werden. Es braucht hier weiterhin innovative Konzepte, wie beispielsweise unsere inklusiven Wohngemeinschaften, um Inklusion aktiv voranzutreiben. Außerdem ist der Verein Lebenshilfe in den letzten Jahren stark gewachsen und mittlerweile ein mittelständiges Sozialunternehmen, was uns sehr stolz macht.

 

Seit 2017 gilt in Deutschland das Bundesteilhabegesetz (BTHG). Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Elke Willi: Das Thema der Selbstbestimmung wird noch stärker in den Vordergrund rücken. Es wird künftig differenzierter festgestellt, welche Unterstützung Menschen mit Behinderung benötigen, auf welche Leistungen der Teilhabe die*der Einzelne Anspruch hat.

Verena Könekamp: Das ist zunächst ein großer bürokratischer Aufwand, für die Menschen, um die es geht, bedeutet es einen Meilenstein der Geschichte.

 

Was ändert sich konkret?

Elke Willi: Ambulante Wohnformen werden beispielsweise wichtiger werden. Und unsere Rolle als Helfer*in oder sog. Betreuer*in wird der Rolle als Assistentin oder Assistent weichen.

Verena Könekamp: Wir können unser Angebot individueller zuschneiden. Wir möchten das BTHG nutzen um mehr Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung zu erreichen.